Wie im Zeitraffer lässt sich anhand der Kino-Pravda-Serie die Explosion der sowjetischen Avantgarde 1922 studieren: Schon in den ersten Ausgaben regt sich der Experimentator
Vertov, in Nr. 3 bringt er sich selbst (und seinen Bruder Michail Kaufman, den "Mann mit der Kamera") ins Bild, ab Nr. 5 werden
die Filme selbstreflexiver, in Nr. 9 (u.a. über den Auftakt zur Moskauer Pferderennsaison und über das rasende Wanderkino)
hat er bereits jenes aberwitzige Tempo und den Rhythmus erobert, der bis heute mit seinem Namen verbunden ist.
Vertovs Freundschaft mit den Konstruktivisten wird in dieser Phase der Kino-Pravda sichtbarer: Aleksandr Rodčenko entwirft die Titel, und der Theoretiker Aleksei Gan feiert in der Zeitschrift Kino-fot die neuartige, "nur dem Medium Film eigene Rhythmik" der Nr. 10, die "nichts mehr von konventioneller Filmästhetik hat".
Die Nr. 13 gilt als ein Opus magnum – und sie hat einen eigenständigen Untertitel: Gestern, Heute, Morgen. Ein Filmgedicht zum 5. Jahrestag der Oktoberrevolution. Die Nr. 14 ist eine Sensation auch in kunsthistorischer Hinsicht: Sie beginnt mit mobilen Installationen von Rodčenko, die
zugleich als dreidimensionale Stummfilm-Zwischentitel fungieren.
Feuilleton, Pamphlet, poetische Analyse und hinreißendes Gedicht: Vertovs Kino-Pravda-Ausgaben 15-19 sind bereits in der "hundertprozentigen Sprache des Kinos" verfasst. Es handelt sich hier um Feuerwerkskino
(Nr. 15), Feier des Frühlings (16), Entdeckung des Kurzschnitts (17), Kamera-Rennen durch die sowjetische Realität (18) und
lebensgefährliche Eisenbahn-Experimente (19). Als Teil der Nr. 16 ist der erste Film Sergej Eisensteins erhalten geblieben
– Glumovs Tagebuch, mit Vertovs Hilfe als Teil der Theaterinszenierung Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste gedreht.
Kino-Pravda 20, 21 und 22 sind eigenständige Filmdichtungen, gewidmet den Pionieren (Nr. 20, mit einer Galerie herrlicher Kindertypen,
die wir bereits aus Kinoglaz kennen wie "Das Räucherlein" oder "Das Zigeunerlein"); dem ersten Jahrestag von Lenins Tod (Nr. 21: Leninskaja Kino-Pravda. Kinopoema o Lenine); sowie dem Bauernstand (Nr. 22: Lenin lebt im Herzen der Bauern).