Kino-Pravda

Über Kino-Pravda


"Die neunzehnte Kino-Pravda werden Sie heute sehen. Die übrigen kann man nicht vorführen, sie sind bis zur Unkenntlichkeit abgespielt."
Dziga Vertov "Über die Kino-Pravda", 1924
(aus: "Dsiga Wertow. Aufsätze, Tagebücher, Skizzen")
 
Zwischen 1922 und 1925 erschienen in unregelmäßiger Folge (und in geringer Kopienzahl) 23 Ausgaben von Dziga Vertovs Wochenschau Kino-Pravda (Kino-Wahrheit). Vertovs Ziel war eine Art "Leinwandzeitung", der Name war eine Hommage an die von Lenin gegründete Zeitung Pravda. Ebenso wie die Wochenschau-Serie Kinonedelja (1918–19) bieten die Ausgaben der Kino-Pravda faszinierende Einblicke in die frühe Sowjetunion und demonstrieren zugleich die rasche Entwicklung von Vertovs Filmsprache.
 
Kinoprava Nr. 5, 1922, Dziga Vertov
Kino-Pravda 06

"Die Kino-Pravda wird aus Material hergestellt ebenso wie ein Haus aus Ziegeln gebaut wird. Aus Ziegeln kann man sowohl einen Ofen als auch eine Kremlmauer und vieles andere bauen. Aus dem aufgenommenen Material kann man verschiedene Filmsachen aufbauen. Ebenso wie gute Ziegel für ein Haus nötig sind, ist gutes Filmmaterial für die Organisation der Filmsache erforderlich. Hieraus erklärt sich das verantwortungsbewusste Herangehen an die Filmchronik, diese Fabrik des Filmmaterials, in der das Leben, nachdem es durch das Objektiv der Kamera gegangen ist, nicht spurlos und für immer verschwindet, sondern seine Spur hinterlässt – eine genau und unnachahmliche Spur.
Davon – wie und wann wir das Leben durch das Objektiv werden gehen lassen, wie wir seine Spur fixieren werden, hängt die technische Qualität, der gesellschaftliche und der historische Wert des Materials ab und im weiteren auch die Qualität der ganzen Sache."
Dziga Vertov "Über die Kino-Pravda", 1924
(aus: "Dsiga Wertow. Aufsätze, Tagebücher, Skizzen")


Wie im Zeitraffer lässt sich anhand der Kino-Pravda-Serie die Explosion der sowjetischen Avantgarde 1922 studieren: Schon in den ersten Ausgaben regt sich der Experimentator Vertov, in Nr. 3 bringt er sich selbst (und seinen Bruder Michail Kaufman, den "Mann mit der Kamera") ins Bild, ab Nr. 5 werden die Filme selbstreflexiver, in Nr. 9 (u.a. über den Auftakt zur Moskauer Pferderennsaison und über das rasende Wanderkino) hat er bereits jenes aberwitzige Tempo und den Rhythmus erobert, der bis heute mit seinem Namen verbunden ist.
 
Vertovs Freundschaft mit den Konstruktivisten wird in dieser Phase der Kino-Pravda sichtbarer: Aleksandr Rodčenko entwirft die Titel, und der Theoretiker Aleksei Gan feiert in der Zeitschrift Kino-fot die neuartige, "nur dem Medium Film eigene Rhythmik" der Nr. 10, die "nichts mehr von konventioneller Filmästhetik hat". Die Nr. 13 gilt als ein Opus magnum – und sie hat einen eigenständigen Untertitel: Gestern, Heute, Morgen. Ein Filmgedicht zum 5. Jahrestag der Oktoberrevolution. Die Nr. 14 ist eine Sensation auch in kunsthistorischer Hinsicht: Sie beginnt mit mobilen Installationen von Rodčenko, die zugleich als dreidimensionale Stummfilm-Zwischentitel fungieren.
 
Feuilleton, Pamphlet, poetische Analyse und hinreißendes Gedicht: Vertovs Kino-Pravda-Ausgaben 15-19 sind bereits in der "hundertprozentigen Sprache des Kinos" verfasst. Es handelt sich hier um Feuerwerkskino (Nr. 15), Feier des Frühlings (16), Entdeckung des Kurzschnitts (17), Kamera-Rennen durch die sowjetische Realität (18) und lebensgefährliche Eisenbahn-Experimente (19). Als Teil der Nr. 16 ist der erste Film Sergej Eisensteins erhalten geblieben – Glumovs Tagebuch, mit Vertovs Hilfe als Teil der Theaterinszenierung Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste gedreht.
  
Kino-Pravda 20, 21 und 22 sind eigenständige Filmdichtungen, gewidmet den Pionieren (Nr. 20, mit einer Galerie herrlicher Kindertypen, die wir bereits aus Kinoglaz kennen wie "Das Räucherlein" oder "Das Zigeunerlein"); dem ersten Jahrestag von Lenins Tod (Nr. 21: Leninskaja Kino-Pravda. Kinopoema o Lenine); sowie dem Bauernstand (Nr. 22: Lenin lebt im Herzen der Bauern).
 
Die umfassende Präsentation von Dziga Vertovs Filmschaffen im Österreichischen Filmmuseum, darunter die Filmwochenschauen Kinonedelja und Kino-Pravda stellte 2006 ein besonderes Ereignis dar. Es war die weltweit zweite Präsentation dieser Art – die Filme sind außerordentlich schwer zu beschaffen. Die erste vergleichbare Vorführung fand im Oktober 2004 im Rahmen der "Giornate del cinema muto" in Sacile statt. Die dortige Retrospektive des Stummfilmschaffens von Dziga Vertov wurde von Yuri Tsivian in Zusammenarbeit mit Aleksandr Derjabin und den Archiven RGAKFD (Krasnogorsk) und Österreichisches Filmmuseum organisiert. Die folgenden Texte von Yuri Tsivian entstammen dem Katalog des Festivals in Sacile.
 
Yuri Tsivian über Kino-Pravda (in englischer Sprache):
Introduction | 1–9 | 10–14 | 15–19 | 20–23