Der Filmmacher und Medientheoretiker Dziga Vertov (1896–1954), geboren als David Abelevič Kaufman in Białystok, wird heute
einhellig als einer der großen "Erfinder" des Kinos gesehen: Erfinder einer neuen Schrift aus Bild und Ton; Schöpfer und Dokumentarist
einer in Bewegung befindlichen Welt. Vertov verstand und praktizierte Film als die moderne Ausdrucksweise und als Mittel zur Schaffung eines neuen Welt-Bilds. In radikaler Abwendung vom theatralischen, romantizistischen
Illusionskino war Film für ihn mit dem poetischen und selbstreflexiven Dokumentarfilm ident – nicht als "schöner", "ästhetischer"
Naturfilm, sondern als eine Kunst des Rhythmus und der (rasenden) Bewegung, die unmittelbar und umstürzlerisch aufs Bewusstsein
der Gesellschaft einwirkt: als Kino-Wahrheit. In seinen polemischen Schriften wie in seinen überbordenden, im Sekundentakt überraschenden Filmen bringt er das essentiell
Neue, das Eigene des Filmmediums auf den Punkt: "Ich bin das Filmauge. Ich bin das mechanische Auge. Ich bin die Maschine,
die Euch die Welt so zeigt, wie nur ICH sie zu sehen imstande bin."
Von den revolutionären Wochenschauen Kinonedelja (1918/19) und Kino-Pravda (1922–25), die faszinierende Einblicke in die frühe Sowjetunion bieten und zugleich die rasche Entwicklung von Vertovs Filmsprache
demonstrieren, bis hin zu den abendfüllenden Meisterwerken wie z.B. Kinoglaz (1924), Ein Sechstel der Erde (1926), Das elfte Jahr (1928), Der Mann mit der Kamera (1929), Ėntuziazm (1930) oder Drei Lieder über Lenin (1934/38) sind die Arbeiten Vertovs und seiner Kinoki-Gruppe immer auch Filme über die ganze Welt. Sein Anspruch war unerhört und utopisch: "Von den Moscheen von Bucharov zu den Stahlträgern des Eiffelturms, von den Schächten
der Hochöfen in den ukrainischen Metallwerken zu den Wolkenkratzern in New York. Vertov wollte hier wie dort präsent sein,
und überall gleichzeitig, als hätte er befürchtet, etwas Bemerkenswertes zu übersehen. Sein 'Mann mit der Kamera' raste in
Autos dahin, flog Flugzeuge, spähte durch Fenster und wagte sich sogar unter die Erde. Die ganze Welt gehörte ihm, und er
fühlte sich überall zuhause. Die Avantgarde der 1920er Jahre sah in der Einheit der Welt die Dämmerung einer globalen Revolution
angekündigt, die sehr bald die ganze Welt ergreifen würde." (Vladimir Nepevnyj)
Um 1930 war Vertov eine internationale Berühmtheit; er absolvierte zwei ausgedehnte Vortragsreisen durch Westeuropa und gewann
illustre Bewunderer, von Charles Chaplin bis Walter Benjamin. Seine Filme waren außerhalb der Sowjetunion kaum je im "regulären
Kinoeinsatz", doch ihre Einzigartigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Gleichzeitig wurde er in Russland mehr und mehr
an der Realisierung seiner Konzepte gehindert: Im Stalinstaat blieben die meisten Avantgarde-Filmschaffenden zwar von Gulag
oder Ermordung verschont, doch ihre Arbeits- und individuellen Ausdrucksmöglichkeiten wurden massiv eingeschränkt.
Am Ende seines Lebens beneidet Vertov den in den Selbstmord getriebenen Freund Majakovskij, dessen Gedichte immerhin in den
Büchereien überlebt hätten. Sein eigenes Werk hingegen, schreibt Vertov in den Tagebüchern, sei ihm verstümmelt, falsch kopiert,
verschnitten, weggeworfen, kurz "zur Gänze ausgelöscht worden".
Es ist vor allem den Bemühungen der Filmmuseen und Filmarchive zu verdanken, dass die Dinge heute nicht ganz so im Dunkel
liegen wie zu Vertovs Lebzeiten.